Revolution für unsere Selbstachtung

Esther Brunner
be queer!
Published in
6 min readJun 16, 2019

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Der Kampf für gleichberechtigte Liebe und freien Geschlechtsausdruck begann mit einem Aufstand. Die revolutionäre Befreiungsbewegung muss weitergehen bis auch die Verletzlichsten unter uns Selbstachtung finden und in Sicherheit leben können!

Vorbemerkung: Die folgende Rede hätte ich im Anschluss an die Pride-Demonstration 2019 auf der Politbühne halten sollen. Das fiel leider ins Wasser, weil der Platz kurz zuvor evakuiert werden musste:

Das Transgender Network Switzerland (TGNS) an der Zurich Pride 2019, die dieses Jahr im Andenken an die trans und gender-nonconforming Menschen, die vor 50 Jahren bei den Stonewall Riots zuvorderst kämpften, als erste Gruppe durch die Strassen von Zürich zogen: «Remembering those who led the way for all: Queer people of all colors, ages, orientations, backgrounds and gender identities.»

Ich bin eigentlich die falsche Person, die auf dieser Bühne steht. Ich erkläre euch gleich, wieso.

Vor 50 Jahren war der Aufstand gegen die Razzia im Stonewall Inn in New York, aus dem später weltweit der Christopher Street Day und die Pride entstand. Der Kampf für gleichberechtigte Liebe und freien Geschlechtsausdruck begann nicht mit einem Kuss, sondern einem Aufstand.

Wer hat damals bei dieser Stonewall-Rebellion gekämpft? — Ich nenne ein paar Namen:

  • Stormé DeLarverie. Ihr wird zugeschrieben, dass sie die Frau war, die damals im Stonewall Inn von der Polizei mit unverhältnismässiger Härte verhaftet wurde und sich mehrmals wieder befreien und entweichen konnte. Sie war eine schwarze Butch.
  • Miss Major Griffin-Gracy. Sie war eine derjenigen, die damals bei der Razzia im Stonewall Inn verhaftet und auf dem Polizeiposten gewalttätig misshandelt wurde. Sie ist eine schwarze trans Frau. Sie setzt sich bis heute für die Schwächsten innerhalb der trans Community ein. Für die trans Leute im Gefängnis, für die Obdachlosen, für die Kranken, die sich keine Behandlung leisten können.
Miss Major Griffin-Gracy erinnert sich an die Stonewall Riots und den zweiten Schlag, als Schwule in der Folge die LGBT-Befreiung medial für sich beanspruchten. «It would be nice if you all help me get these younger people, the younger gay, lesbian, and transgender kids to understand that T started this.»
  • Marsha P. Johnson und Sylvia Rivera. Sie bezeichneten sich beide als Drag Queens — zu der Zeit war «trans» noch kein verbreiteter Begriff. Marsha war schwarz, Sylvia latina. Sie waren Sexarbeiterinnen, waren oft obdachlos und wurden oft verhaftet. Sie waren gleichzeitig Mitgründerinnen der Gay Liberation Front, der sexuellen Befreiungsbewegung, die nach der Stonewall-Rebellion konfrontaktiv offen den Kampf für LGBT-Rechte aufnahm. Die Gay Liberation Front kämpfte nicht nur gegen die Verfolgung von gleichgeschlechtlich liebenden Menschen und Sexarbeiter’innen, sondern verstand sich explizit als revolutionäre Bewegung, die auch antirassistisch, feministisch, pazifistisch und antikapitalistisch war.

Stormé DeLarverie, Miss Major, Marsha P. Johnson und Sylvia Rivera waren schwarze und latina trans und gender-nonconforming Frauen, Drag Queens und Lesben, die sich an vorderster Front gegen die Unterdrückung von und Gewalt an Lesben, Schwulen, Bisexuellen und trans Menschen einsetzten.

  • Ihnen verdanken wir, dass es den meisten von uns heute wesentlich besser geht als vor 50 Jahren.
  • Ihnen verdanken wir, dass wir uns nicht mehr verstecken und verrenken müssen.
  • Ihnen verdanken wir, dass wir wegen unserer sexuellen Orientierung oder unserer Geschlechtsidentität meist nicht mehr den Job verlieren.
  • Ihnen verdanken wir, dass wir in vielen fortschrittlichen Ländern — die Schweiz zählt nicht dazu — unsere Liebe durch eine offiziell anerkannte Ehe bezeugen können.
  • Ihnen verdanken wir, dass wir heute feiern können und uns nicht gegen Polizeigewalt zur Wehr setzen müssen.

Ich bin insofern die falsche Person, die auf dieser Bühne steht, als es mir heute deutlich besser geht als wenn ich vor 50 Jahren gelebt hätte.

Doch nicht allen von uns geht es heute besser. Ausgerechnet denjenigen, die damals für uns gekämpft haben, geht es nicht wirklich besser: den Verletzlichsten in unserer Community, nicht-weissen trans Sexarbeiter’innen. Miss Major, die noch lebende Ikone aus der Zeit der Stonewall-Rebellion, sagte kürzlich, dass sich diesbezüglich in den letzten 50 Jahren nicht so viel geändert hat:

«Things haven’t changed enough for my girls, trans guys, gender-nonconforming people, and me to feel safe.»

In den USA werden mühsam erkämpfte Rechte für trans Menschen wieder zurückgerollt. Die Administration Trump hat mit dem «Trans Military Ban» dafür gesorgt, dass etwa 15'000 trans Menschen in der US Army nicht nur ihren Job, sondern auch die Krankenversicherung verlieren. Ärzt’innen dürfen neu trans Menschen offen diskriminieren, aus sogenannten «Gewissensgründen», und ihnen so notwendige medizinische Leistungen vorenthalten.

Weiter wird in den USA Sexarbeit nach wie vor kriminalisiert, seit FOSTA und SESTA noch verschärft. Durch diese Gesetze werden Sexarbeiter’innen in unsicherere Formen von Sexarbeit gedrängt, wo sie sich noch schlechter gegen Gewalt und Ausbeutung wehren können. Selbst Minderjährige, die zu Sexarbeit gezwungen wurden, werden ins Gefängnis gesteckt.

Diese repressiven Massnahmen führen dazu, dass Menschen sterben werden. Sie werden sterben als Opfer von Hassverbrechen, als Opfer von Polizeigewalt, weil sie nicht rechtzeitig behandelt werden oder weil sie in ihrer ausweglosen Situation Selbsttötung als die am wenigsten schlimme Möglichkeit anschauen. — Und ratet mal: Aus welcher Gruppe werden wohl überproportional viele Menschen sterben?

Ich bin die falsche Person, die auf dieser Bühne steht. Dieser Platz steht mir nicht zu. An meiner Stelle sollte eine trans Sexarbeiterin sprechen, die für diese Arbeit mit einer Kurzaufenthaltsbewilligung in die Schweiz kam, um sich medizinische Massnahmen, die in ihrem Herkunftsland nicht von einer Versicherung übernommen werden, leisten zu können. — Diese Menschen gibt es. Sie sind unter uns. Aber ich muss zu meiner Schande gestehen, dass ich bisher den Kontakt gescheut habe und einfach hingenommen habe, dass diese trans Sexarbeiter’innen systematisch (Aufenthaltsbewilligung, Sprachbarriere) kaum in Kontakt mit lokalen trans Communitys treten können.

Wir müssen uns bewusst machen, wen wir zu Wort kommen lassen:

  • Sind es die ohnehin Privilegierten in unserer Community?
  • Sind es vielleicht sogar solche, die verneinen, dass Rassismus und Sexismus nach wie vor drängende Probleme in unserer Gesellschaft sind?
  • Sind es solche, die in Frage stellen, ob geschlechtsangleichende Massnahmen weiterhin im Grundkatalog der obligatorischen Krankenkassenleistungen bleiben sollen?
  • Sind es solche, die Antidiskriminierung aufgrund sexueller Orientierung im Gesetz verankert haben wollen, aber bereitwillig für politische Mehrheiten den Diskriminierungsschutz aufgrund der Geschlechtsidentität fallen lassen?
  • Sind es solche, die strukturelle Abwertung und Diskriminierung armer Menschen als Kollateralschaden des ach so segensreichen Kapitalismus in Kauf nehmen?

Und wen ziehen wir gar nicht erst in Betracht, weil «irgendwie schwierig», «hat eine Art, die gewissen Leuten sauer aufstossen könnte», «hat keinen anerkannten Leistungsausweis», «kenne ich zu wenig» , gilt als «unzuverlässig» oder «unberechenbar»?

An dieser Stelle möchte ich speziell Anna Rosenwasser danken, dass sie für die Politbühne des Pride Festivals viel Mühe auf sich genommen hat, Stimmen auf die Bühne zu bringen, die sonst zu wenig gehört werden.

Ich mag eine falsche Person sein, die auf dieser Bühne steht. Aber immerhin bin ich mir meiner eigenen Privilegiertheit bewusst und anerkenne, dass ich die Perspektive von anders marginalisierten Menschen nicht repräsentieren kann.

  • Ich habe das Privileg, nicht täglich Rassismus ausgesetzt zu sein. Ich kann mir zu wenig vorstellen, was es bedeutet, aufgrund von Hautfarbe und vermuteter Herkunft diskriminiert oder nicht ernst genommen zu werden.
  • Ich habe das Privileg, einen angesehenen Beruf ausüben und Sex als Hobby pflegen zu können und nicht damit meinen Lebensunterhalt bestreiten zu müssen. Ich kann mir zu wenig vorstellen, welchen Einfluss gesellschaftliche Stigmatisierung und ausbeuterische Abhängigkeitsverhältnisse auf meine Selbstachtung hätten.
  • Ich habe das Privileg, mir eine nette Wohnung leisten zu können. Ich kann mir zu wenig vorstellen, was es bedeutet, keinen gesicherten, warmen und trockenen Schlafplatz zu haben und überall als unerwünscht angeschaut zu werden.
  • Ich habe das Privileg, eine bestärkende Liebesbeziehung, eine unterstützende Familie und einen tragfähigen Freund’innenkreis zu haben. Ich kann mir zu wenig vorstellen, von meiner Familie verstossen zu werden und mich nirgends voll akzeptiert zu fühlen.
  • Ich habe das Privileg, in einem Land mit einigermassen fairen und funktionierendenen Institutionen aufgewachsen zu sein. Ich kann mir zu wenig vorstellen, was es beutetet, wegen Verfolgung und Gewalt aus meiner Heimat fliehen zu müssen.
  • Ich habe das Privileg, bei guter Gesundheit zu sein. Ich kann mir nur darum etwas besser vorstellen, was es bedeutet, mit den Einschränkungen einer chronischen Krankheit oder Behinderung leben zu müssen, weil meine Partnerin davon betroffen ist.
  • Ich habe das Privileg, mich als Frau einem der zwei allgemein anerkannten Geschlechter zugehörig zu fühlen und auch als Frau anerkannt zu sein. Ich kann mir nur darum vorstellen, was es bedeutet, einem Geschlecht zugerechnet zu werden, mit dem ich mich nicht identifizieren kann, weil ich das in meiner Kindheit und Jugend selber erlebt hatte.

Die Verschränktheit dieser Formen gesellschaftlicher Marginalisierung schafft nochmals ganz neue Hindernisse, denen ich glücklicherweise nicht ausgesetzt bin.

Wer sich dessen nicht bewusst ist, sollte nicht am Pride Festival auf die Bühne treten. Wer wegen der Verblendung durch die eigene unbewusste Privilegiertheit nie gelernt hat, intersektional zu denken, hat keine Bühne an der Pride verdient.

Die Pride ist nur so stark, wie sie den Verletzlichsten unter uns tatsächlich zu Selbstachtung und einem Leben in Sicherheit verhilft. Das ist unsere Aufgabe! Die revolutionäre Befreiungsbewegung für unsere Selbstachtung und unsere Liebe zu anderen Menschen muss weitergehen!

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User Interface Developer und Spezialistin für Inclusive Design bei @zeix, queer-feministische Denkerin und Aktivistin, schreibt für @be_queer (sie/ihr)