Re: Muss der Körper zur Seele passen?

Esther Brunner
be queer!
Published in
6 min readFeb 9, 2018

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Philipp Tingler fragt in seinem Blog auf tagesanzeiger.ch, ob wir uns mit neuen Geschlechtsidentitäten wie «nicht binär» oder «gender-queer» nicht selbst in eine Schublade stecken. Eine Replik auf einen verständnisarmen Text, in dem ein cis Autor trans und non-binären Menschen auf überhebliche Art die Welt zu erklären versucht.

Selber auch Philosophin, will ich aufzeigen, wie Philipp Tingler für einen Philosophen erstaunlich unreflektiert mit einem Thema umgeht, mit dem er sich offensichtlich kaum auseinander gesetzt hat,

Sprechen wir über den «offensichtlichen Widerspruch», dass trans Menschen die körperliche Erscheinung wichtig ist, obwohl das Entscheidende für die Geschlechtszugehörigkeit ganz richtig die eigene Identifikation ist. Keine trans Frau, so behauptet Philipp Tingler, würde von sich sagen, sie «fühle sich als Frau», lebe aber «im Körper eines Mannes», und das sei vollkommen okay. — Warum wohl nicht? Ich will es erklären, weil ich hatte genau mit dieser Einstellung 3 Jahre lang zu leben versucht.

Meine eigene Erfahrung

Inzwischen ist es 20 Jahre her, aber ich mag mich noch gut erinnern. Ich war mir in dieser Zeit bewusst, dass ich mich selber als Frau sehe, mich mit anderen Frauen identifiziere und mich mit ihnen stärker verbunden fühle als mit Männern (gender identity). Gleichzeitig war ich mir bewusst, dass ich von der körperlichen Ausstattung her die typischen Attribute, die Männern zugeschrieben werden, habe (sex). Das war mir teilweise etwas gleichgültig, teilweise aber auch sehr unangenehm. Ich schämte mich, weil ich genau wusste, dass ich wegen den männlich konnotierten körperlichen Attributen als Mann gelesen werde. Diese fremdbestimmte Lesart meines Körpers versuchte ich selbstbestimmt mit weiblich zugeordneten Insignien aufzubrechen (gender expression). Indem ich mit farbigen Haaren, bunten Unisex-Kleidern und angemalten Fingernägeln einen gender-queeren Geschlechtsausdruck pflegte, signalisierte ich meinen Mitmenschen, dass die rigiden und zuweilen toxischen Männlichkeitsnormen auf mich nicht anwendbar sind.

Das eröffnete mir Freiheiten. Dennoch war das ein für mich unbefriedigender Zustand im geschlechtlichen Niemandsland (für den es damals noch keine gebräuchlichen Begriffe gab). Ich wurde zwar nicht mehr als Mann ernst genommen 👍, aber ich wurde auch nicht als Frau anerkannt 👎. Dieses Experiment, bei klarem Verstand die Nichtübereinstimmung von innerer Geschlechtsidentität, äusseren Geschlechtsmerkmalen und sozialem Geschlechtsausdruck auszuhalten, schärfte mein Bewusstsein, warum diese Option in unserer Gesellschaft kaum lebbar ist.

Gedankenexperiment

Nun lade ich dich, Philipp Tingler, zu einem Gedankenexperiment ein, wie wir Philosoph’innen es doch so lieben. Stell dir eine Insel mit 500 Menschen darauf vor, je zur Hälfte Männer und Frauen. Du bist genauso wie du dich fühlst. Aber die anderen Menschen sind deutlich anders.

Die Frauen sind die dominante Gruppe. Sie beherrschen Politik, Wirtschaft und Medien. Sie tragen helle, leuchtend farbige und glitzernde Kleider, haben kunstvoll gestylte Bärte und witzeln untereinander, wer den grösseren Penis habe. Frauen werden ernst genommen. Demgegenüber ist den Männern vornehmlich die häusliche Sphäre und die unbezahlte Care-Arbeit zugewiesen, schliesslich sind sie es, die die Kinder gebären. Frauen lieben es, wenn sich Männer in strengen schwarzen, grauen oder dunkelblauen Massanzügen sexy präsentieren.

Alle sagen dir, dass du ein Mädchen bist, denn schliesslich hast du einen Penis. Du interessierst dich zwar für Puppen und Kuchen aus Sand, aber die Knaben wollen nicht mit dir spielen, weil du ein Mädchen seist. Und die Mädchen verhauen dich, weil du nicht mädchenhaft genug bist.

Eines Tages, als du wieder weinend aus dem Kindergarten zurückkommst, nimmst du deinen ganzen Mut zusammen und fragst deinen Vater, wie du geheissen hättest, wenn du als Knabe zur Welt gekommen wärest. — «Philipp» sagt er dir. Und du wirst das nie mehr vergessen. Er erklärt dir einfühlsam, dass du sein darfst wie du bist. Auch als Mädchen darfst du durchaus mit Puppen spielen, dunkle Hosen und blaue Hemden anziehen. Er sagt dir aber auch, dass du es als Mädchen und später als Frau einfacher im Leben haben wirst. Du bist erleichtert, aber irgendwo tief drinnen auch enttäuscht. Eine Enttäuschung, ein Gefühl von Unverstandenheit, das du noch viele Jahre, ja Jahrzehnte nicht in Worte fassen kannst. So wächst du in einer Welt auf, in der sich für dich vieles falsch anfühlt. Alle anderen halten das jedoch für normal. Du willst nicht immer die Aussenseiterin sein und gibst dir Mühe, ein starkes, erfolgreiches Mädchen zu sein. Oft gelingt dir das ganz gut. Und am nächsten Tag wirst du wieder als knabenhaften Pflock verhöhnt.

Dann kommt die Pubertät. Ab jetzt wirst du schief angeschaut, wenn du dich mit den heranwachsenden Männern auch nur locker unterhalten willst. Wegen deiner etwas burschikosen Art sagt mensch dir nach, dass du lesbisch seist. Und das gilt als Schimpfwort. Du schämst dich. Denn inzwischen wachsen dir Barthaare und du kommst in den Stimmbruch. Du weisst, das ist ein Zeichen, dass du irreversibel zur Frau wirst. Dein sexuelles Begehren erwacht. Du fühlst dich davon getrieben, aber noch viel mehr befremdet. Die Vorstellung, dass du als Frau mit deinem Penis Sex mit anderen Menschen haben könntest, lässt dich erschaudern. Langsam dämmert es in dir, dass du eigentlich ein Mann mit einem Penis sein könntest, aber du verwirfst den Gedanken, denn du weisst genau, sowas gibt es nicht. Seit deiner Kindheit plagen dich Gedanken, dass du für verrückt erklärt, in einer Anstalt versorgt oder verstossen werden könntest, sofern andere herausfinden, dass du dich trotz deinem weiblichen Körper (mit Penis als unverkennbarem Merkmal) als Mann fühlst.

I think you get the point. Now fast forward to 2018.

Inzwischen hast du entdeckt, dass die Welt nicht nur aus deiner Heimatinsel besteht. Du hast andere trans Menschen kennengelernt und konzeptuelle Klarheit erlangt, was mit dir und der Gesellschaft in Bezug auf die Geschlechterverhältnisse los ist. Das Coming-Out war hart. Du hast auch mehrmals darüber nachgedacht, dich umzubringen — und es zum Glück doch nicht getan. Vor vielen Jahren hattest du eine geschlechtsangleichende Operation und nimmst regelmässig Hormone. Oder vielleicht auch nicht. Das bleibt dir überlassen. Manchmal wirst du am Telefon aufgrund deiner tiefen Stimme noch für eine Frau gehalten. Aber das ist selten geworden. Häufiger regst du dich über den allgemeinen Sexismus auf, z.B. wenn Frauen dir ungefragt ins Gesicht langen, um zu spüren, ob dein Kinn zart wie ein Baby-Po ist.

Und dann kommt eine Philosophin, eine privilegierte cis Frau, die von einer grossen Tageszeitung eine Plattform erhielt, um eine Kolumne über Geschlechtsidentitäten und Körperoptimierungswahn zu schreiben. Sie hat offenbar kürzlich eine Doku zum Thema Trans gesehen. Die Doku sei sehenswert und biete Einblicke in marginalisierte Lebenswelten. Sie klärt auf, dass es erstaunlich viel trans Menschen gebe. Sie mahnt, dass Aufklärung wichtig sei. Mit «Leidensdruck» drückt sie auf die Tränendrüsen. Sie fordert Respekt für dein selbstbestimmtes Leben — um gleich im nächsten Satz eben da einen Widerspruch zu monieren.

Du fühlst dich wie ein menschliches Exponat im Zoo Zürich (wie es sie tatsächlich vor 100 Jahren noch gab). Du findest ihren exotisierenden Blick auf «Betroffene» überheblich.

Okay Philipp Tingler, ich will dich nicht länger mit deinen eigenen Worten demütigen (obwohl mir das zugegebenermassen Spass machen würde 😈). Du hast verstanden, dass dich ein gedanklicher Rollentausch davor bewahrt hätte, Unfug zu schreiben.

Du wirfst uns trans Menschen vor, unser Geschlechterrollenverständnis sei «konsumistisch verengt». — Dein Denkfehler ist: Gender ist ebenso wie Sprache kein privates, sondern ein öffentliches Gut, das performativ immer wieder neu erschaffen wird. Ebenso wie eine Privatsprache für die Verständigung sinnlos wäre, können einzelne Menschen in ihrem Streben nach Anerkennung als Angehörige ihres Identitätsgeschlechts nicht aus der gesellschaftlichen Geschlechterordnung ausbrechen — schon gar nicht die fragilsten. Trans Menschen kommunizieren — insbesondere zu Beginn der Transition — oft mit eindeutig geschlechtlich konnotierten äusserlichen Attributen ihr Geschlecht. So wird es verstanden in der breiten Gesellschaft. Das ist der Grund.

Der Teppich der geschlechtlichen Verständigung ist immer schon da (und kann je nach Gesellschaft unterschiedlich gewoben sein). Wir fügen uns als Faden so ein, wie wir gelesen werden wollen — so gut es halt eben geht. Aber wir lassen uns nicht so glatt einordnen — weil wir teils nicht können, teils nicht wollen. Wir trans und non-binären Menschen sorgen für neue, andere, vielfältigere Muster auf dem Teppich der Geschlechterverhältnisse.

Kaum jemand im gender-queeren Spektrum versteht die neuen Begriffe als «Kategorien» oder «Schubladen», so wie du Philipp Tingler. Vielmehr brauchen wir halt ein breiteres Repertoire an Beschreibungsmöglichkeiten für die neu beachteten Ausdrucksformen. Ganz anders als du unterstellst, sind es derzeit hauptsächlich die queer-feministischen Kräfte, die an die Gestaltbarkeit der Gesellschaft glauben und Geschlecht und Sprache tatsächlich auch verändern. Dein Text, Philipp Tingler, ist dagegen bloss reaktionärer Bullshit.

Du erliegst der Illusion, dass der Geschlechtswechsel am Körper von trans Menschen stattfinde. Deshalb auch der Zusammenhang mit Körperoptimierung. Das ist falsch! Der Geschlechtswechsel findet in den Köpfen unserer Mitmenschen statt — unterstützt durch einige äussere Zeichen.

Update 10. März 2019

Ich habe den Artikel sprachlich leicht überarbeitet, indem ich konsequent zur adjektivischen Form für cis und trans Menschen gewechselt habe. Dass wir trans oder cis sind, ist nur ein Aspekt unter anderen unseres Daseins.

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User Interface Developer und Spezialistin für Inclusive Design bei @zeix, queer-feministische Denkerin und Aktivistin, schreibt für @be_queer (sie/ihr)