Hin zu enthusiastischer Zustimmung

Esther Brunner
be queer!
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15 min readJan 1, 2018

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Kurz vor Weihnachten machten sich mehrere deutschsprachige Medien über ein neues Gesetz in Schweden lustig, wonach jede sexuelle Handlung, die nicht im gegenseitigen Einverständnis geschieht, strafbar wird. Die Reaktion auf etwas, was eigentlich allen glasklar sein sollte, ist für mich zutiefst verstörend. Ich erkläre warum.

Ausschnitt aus dem Bild «Erdbeere mit Perle» von Esther Brunner, 2017, Acyl auf Leinwand

Das Einverständnis-Gesetz in den Medien

Was besagt das sogenannte Einverständnis-Gesetz?

«If a person has not agreed in words or by their clear actions that they are willing to engage in sexual activity, then forcing or coercing them into a sexual act will be illegal.» (Quelle: thelocal.se)

Tönt vernünftig und ist es auch. Natürlich wird es in konkreten Fällen nicht leicht nachzuweisen sein, ob alle Beteiligten ihre Zustimmung gaben, aber das ist kein neues Problem. Bereits heute ist es schwierig zu beweisen, wenn bei einer Vergewaltigung ein Nein übergangen wurde, denn schliesslich gilt auch in diesem Bereich des Strafrechts die Unschuldsvermutung – und das ist gut so. Das Gesetz macht immerhin klar, unter welchen Umständen sich sexuelle Aktivitäten im Rahmen der staatlichen Normen bewegen und auf welche Seite sich der Rechtsstaat stellt, falls sie nachweislich verletzt werden.

Lassen wir diese praktischen Erörterungen beiseite und wenden uns dem zu, was deutschsprachige Zeitungen und Fernsehbeiträge daraus machten: «Schweden: Männer müssen Sex-Genehmigung bei Frauen einholen» titelt die Augsburger Allgemeine. Und Focus so: «Selbst bei der eigenen Ehefrau: Schweden müssen sich vor dem Sex Genehmigung einholen». – Diese Skandalisierung tönt, als ob bei Sex nur Männer etwas von Frauen wollen würden (stimmt nicht), als ob nur heterosexuelle Paare Sex hätten (stimmt nicht) und als ob Männer irgendwie ein Anrecht auf Sex (zumindest mit «ihrer» Frau) hätten (stimmt nicht).

In der Welt spricht Ulf Poschardt von einer radikalen Verschärfung und beschwört «Koitalformulare und -bürokratie» als Reductio ad absurdum der «#MeeTo-Erregtheit» herauf. Damit, so die Welt, mache sich Schweden zum «unromantischsten Land der Welt, gleich hinter Saudi-Arabien und dem Iran». Entgegen dem Wortlaut des Gesetzes wird behauptet, dass das Einholen der ausdrücklichen Erlaubnis «gern auch schriftlich» zu erfolgen habe und dass dies der «Aufhebung der Unschuldsvermutung» gleichkomme. Dieses «Hineinregieren in die Intimsphäre» sei «verrückt». Weiter wird einmal mehr die öffentliche Problematisierung von sexualisierter Gewalt als «Hexenjagd» bezeichnet, bei der Männer der Vergewaltigung «bezichtigt» würden, obwohl die «vermeintlichen» Übergriffe teilweise schon Jahrzehnte zurücklägen.

In der Schweiz sah die Reaktion nicht besser aus. Mit einem platt-humoristischen Fragebogen macht sich Philippe Zweifel in Tagi/Newsnetz über das neue Gesetz lustig. Blick hat immerhin nach Kritik in den Sozialen Medien den ursprünglichen Artikel «leicht angepasst». Ähnlich auch der Tagi/Newsnetz im Artikel mit Erklärungsanspruch, der nach der Fragebogen-Glosse erschien:

«Korrektur: In einer ersten Version des Artikels hiess es, dass die Partner in Schweden vor dem Sex um Erlaubnis bitten müssen. Diese Interpretation des Gesetzes wurde weltweit verbreitet, ist jedoch falsch.»

Die Schwedische Botschaft in Berlin sah sich genötigt, eine Richtigstellung zu den tendenziösen Falschmeldungen in der Presse zu veröffentlichen. — Was will mensch dazu bloss sagen? Micha bringt es auf den Punkt:

Dabei: Zustimmung ist ein spannendes Thema. Hier was mich beschäftigt.

Wandel der Sexualität

Das Bild von Sexualität unterliegt gesellschaftlichem Wandel. Bis vor etwa 100 Jahren verneinte die von Männern betriebene, als Wissenschaft geltende, Medizin die Existenz weiblicher Orgasmen. Sexuelles Begehren wurde nur Männern zugeschrieben. Im Gegenzug wurde eine Krankheit konstruiert, die ausschliesslich Frauen befalle und mit der sich so ziemlich alle von der Norm bzw. den männlichen Erwartungshaltungen abweichenden «weiblichen» Verhaltensweisen erklären liessen: Hysterie. Schätzungen zufolge «litten» bis zu 75% aller Frauen unter Hysterie. Interessant waren auch die Behandlungsmethoden: Am wirksamsten erwies sich die Massage der Beckenregion, die zu einem als «hysterischen Paroxysmus» bezeichneten fieberhaften Ausbruch der «Krankheit» führte. Doch die Behandlung hysterischer Frauen war bei Ärzten wegen verkrampfter Hände und ermüdender Finger unbeliebt. So erfanden die Sexarbeiter in weissen Kitteln — ganz der Dynamik des Kapitalismus folgend, Arbeit durch Kapital und selbstbedienungsfähige Technologien zu ersetzen – den Vibrator. Erst als sich die Erkenntnis durchsetzte, dass es sich beim «hysterischen Paroxysmus» um einen klitoralen Orgasmus handelt, verschwanden diese Geräte aus den Arztpraxen.

Dieser Exkurs soll vor Augen führen, wie vor nicht allzu langer Zeit ganz andere Vorstellungen verbreitet waren, was Sexualität sei, wie sie abzulaufen habe und wie wir gesellschaftlich damit umgehen sollen. Als ich bereits ein politisch denkender Mensch war, galt in der Schweiz Vergewaltigung in der Ehe noch nicht als Straftatbestand. Wie wir aus der Skandalisierung von «Selbst bei der eigenen Ehefrau» in Focus und «Hineinregieren in die Intimsphäre» in der Welt lesen, hält sich auch heute (ein Vierteljahrhundert später) die Vorstellung, die Frau sei in sexuellen Belangen doch irgendwie Eigentum des Mannes, noch immer in zu vielen Köpfen. Remember: Das Private ist politisch!

Dazu eine Anekdote: Am Lila, dem falschsexuellen Kulturfestival der Milchjugend, tanzte eine der Künstlerinnen mit einem jungen heterosexuellen Mann aus dem Dorf. Doch er wurde ihr bald einmal zu aufdringlich, so dass sie sich mir zuwandte und ausgelassen mit mir tanzte. Er sprach mich an, diese Frau gehöre ihm. Ich erwiderte kühl: «Kein Mensch gehört jemand anderem als sich selbst!» Er darauf: «Schon klar, aber du weisst, wie ich meine.» Ich, leicht gereizt: «Ich weiss genau wie du meinst. Aber auch so nicht!» – Nach einer kurzen Denkpause fügte er kleinlaut an, ich habe ja schon recht, aber er komme halt aus einer anderen Welt, der Baubranche, und da würden andere Regeln gelten.

Ich bin mit pubertierenden jungen Männern aufgewachsen als ich selbst noch männlich gelesen wurde. Ich weiss zu genau, wie junge heterosexuelle Männer über Frauen und Sex denken, welche Sprüche sie machen, wie sie Frauen imponieren und sich gegenüber anderen Männern beweisen wollen. Ich weiss auch, dass die meisten jungen Männer tief drin von Selbstunsicherheit und Ängsten, nicht zu genügen, geplagt sind. Jungen Frauen geht es nicht besser, aber die jungen Männer fühlen sich unter gesellschaftlichem Druck (hauptsächlich Peer-Pressure unter Männern), diese «Schwächen» nicht zu zeigen und überspielen sie mit demonstrativer Entschlossenheit. Und ich weiss auch, dass die allermeisten Männer irgendwann dann doch noch erwachsen werden, weniger toxische Ausdrucksformen für ihre Männlichkeit finden und ganz vernünftig mit Frauen umzugehen lernen.

Den grössten Teil meines Erwachsenenlebens habe ich als weiblich gelesene Person erlebt. Es ändert viel, ob du in unserer Gesellschaft als Mann oder als Frau wahrgenommen wirst. Bereits vor der Transition war ich mir bewusst, wie viele sexistische Glaubenssätze noch in den Köpfen der Menschen hängen, aber ich war nicht direkt davon betroffen. Was ich damals zu spüren bekam, waren vor allen Hass und Abwertung gegenüber Vorlieben und Verhaltensweisen, die als nicht männlich gelten, bei männlich gelesenen Personen. Als Frau ist das anders. Die selben Züge an mir, die vorher Gegenstand von Hänseleien waren, wurden nun geschätzt. Du musst auch zuerst mal klarkommen mit dem Umstand, dass Typen vom Schlag, die dich früher als Kind auf dem Pausenhof zusammengeschlagen haben, dich nun plötzlich sexuell attraktiv finden. Doch begehrt zu werden bedeutet leider nicht gleichzeitig respektiert zu werden.

Was ich im Erwachsenenleben an Sexismus und sexualisierten Übergriffen erlebt habe, ist nicht besonders schlimm, zum Glück. Die einzelnen Vorfälle sind bisher für mich gut verdaubar, aber in der Summe und wegen der Systematik dahinter werden sie zum Problem. Viele andere Frauen hatten weniger Glück. Und alle Frauen, mit denen ich mich über das Thema unterhalte, können eigene Geschichten erzählen, die sich in der Struktur sehr ähneln: Es sind (so gut wie immer) Männer, die nach anfänglicher netter Unterhaltung / guter Zusammenarbeit deine Worte und deine Körpersprache ausblenden und dich auf ein mögliches Objekt ihres sexuellen Begehrens reduzieren. — Und nein, es liegt nicht an den Genen oder den Hormonen, denn wie gesagt: Die meisten Männer können ganz gut mit ihrer Testosteron-Getriebenheit umgehen. Das Problem ist, dass übergriffiges Verhalten zu lange stillschweigend hingenommen und toleriert wurde. Der Skandal an Trumps Aussage «And when you’re a star, they let you do it. You can do anything. Grab them by the pussy.» ist für einmal nicht, dass sie nicht stimmt, sondern dass sie stimmt.

Wenn wir nicht wollen, dass die Aussage hinter Trumps Angeberei weiterhin wahr bleibt, müssen wir einen anderen Umgang mit sexuellem Begehren finden als dies lange Zeit praktiziert wurde und in vielen Filmen romantisiert oder pornografisiert gezeigt wird. Das ist möglich, denn der Umgang mit Sexualität ist wandelbar. Zustimmung ist der Schlüssel für diesen Wandel.

Consent ist sexy

Beginnen wir mit dem kleinen 1×1 von Zustimmung, oder auf Englisch: Consent.

Was sonnenklar erscheint, wenn es um das Trinken einer Tasse Tee geht, sollte umso mehr beachtet werden, wenn es um ein heikles und intimes Thema wie Sex geht. Da ich ein grosser Fan von Rachel Lark bin, flechte ich gerne in jeden Artikel einen Song von ihr ein. Sie bringt im Song «For the Guys» sehr schön auf den Punkt, warum Zustimmung unerlässlich ist:

«If you’re thinking that you wanna fuck someone, I ain’t trying to ruin your fun. All that you gotta do is make sure they wanna fuck you back. Yeah, make sure they wanna fuck you back. Yeah, make damn motherfucking sure they wanna fuck you back.

Oh yeah you’re looking for that eye contact and that deliberate touch that wants you to touch back, those sighs of pleasure, ooh the release of tension. Because you see it’s very important for me to mention that some women have internalized their sexual objectification, which can sometimes lead to some bodily alienation. And add to that the likelihood of trauma (about 1 in 3) and you’ve got yourself what I would call a perfect recipe for some fear and confusion greetin’ you in that bad. Suddenly you’re an intrusion in their body and in their head. A freeze response is just one reason that women might not say ‹no›. So before you penetrate somebody else you should make sure fo sho. Yeah the rules are very simple, and this is how you play: Don’t fuck someone who ain’t on board 100% of the way!»

Niemand sagt, das sei einfach. Ich kenne die Angst vor Ablehnung und Zurückweisung gut. Es braucht Mut, das Thema anzusprechen, sowohl wenn ich etwas will als auch wenn ich etwas nicht will. Besonders schwierig finde ich es, wenn ich mir etwas vom Gegenüber erhoffe, diese Person aber noch nicht gut kenne und einschätzen kann. Es ist paradox: Genau in den Situationen, in denen die Klärung von Interessen und Erwartungen am wichtigsten wäre, habe ich am meisten Hemmungen.

Am Anfang fühlt es sich vielleicht komisch an zu fragen. In den meisten Hollywood-Filmen fragen sie einander ja auch nicht vor dem Kuss. Und in Mainstream-Pornos fragen sie vielleicht «Warum liegt hier überhaupt Stroh rum?», aber nicht, ob und was das Gegenüber möchte. Und scheinbar gelingt es anderen auch ohne zu fragen zum «Ziel» zu kommen. — Der Unterschied ist: In den Filmen gibt es ein Drehbuch und die Schauspieler’innen wissen schon zum Voraus, wann sie was tun müssen. Viele Leute haben in Bezug auf Sex auch ein Drehbuch im Kopf. Die Schwierigkeit liegt darin, dass ohne Absprache diese Drehbücher selten genau passen. Wenn du nach deinem Drehbuch unabgesprochen etwas mit mir machst, das in meinem Drehbuch nicht vorkommt und ich nicht will, dann ist es ein Übergriff. Der beste Schutz, unbeabsichtigt übergriffig zu werden, ist, sich vorher durch Fragen und Zuhören zu versichern, ob die eigenen Annahmen über, was das Gegenüber will, tatsächlich zutreffen.

Die gute Nachricht ist: Mit Übung wird es leichter. Zustimmung einzuholen und der achtsame Umgang mit dem Körper und der Sexualität anderer sind lernbar. Das «Wheel of Consent» der amerikanischen Ärztin und Sexological Bodyworkerin Betty Martin halte ich für ein sehr hilfreiches Kommunikationskonzept, um mehr Klarheit in den Körperkontakt zwischen Menschen zu bringen:

Ein Einwand gegen das Zustimmungsprinzip lautet, das aktive Fragen nach Berührungen würde den Fluss des Liebesspiels unterbrechen und die Lust killen. — Ich glaube, das ist ein Missverständnis oder eine bewusste Falschdarstellung seitens derjenigen, die glauben, ein Anrecht auf Sex zu haben, so lange kein klares «Nein» kommt. Es geht nicht darum, am Küchentisch einen Vertrag auszuhandeln, sondern sich gegenseitig vor oder während dem Liebesspiel verbal oder nonverbal zu versichern, dass beide (oder alle) es geniessen. Also ich finde es super sexy, wenn ich einer liebsten Person ins Ohr flüstere, ob ich ihren Hals küssen und an ihren Ohren knabbern dürfe, und dann die enthusiastische Antwort erhalte: «Oh ja, ich liebe das!». Umgekehrt schätze ich es auch sehr, wenn ich gefragt werde: «Darf ich deine Brüste kneten?» und antworten kann: «Sehr gerne! Lass mich zu Beginn deine Hände führen. Ich zeig dir, wie ich es gern habe.» — Die Kommunikation über das Liebesspiel erfüllt eine wichtige Funktion, ähnlich wie wenn der Kellner in einem edlen Restaurant beim Servieren eines Ganges auf die Herkunft der auserlesenen Zutaten oder Besonderheiten der Zubereitung hinweist. Die Ankündigung weckt Vorfreude. Sie macht, dass einem das Wasser im Mund zusammenläuft. Oder eben auch nicht. Die gefragte Person trägt die Verantwortung, gut auf die eigenen körperlichen Reaktionen zu achten: Löst die Frage in mir Erregung aus oder verkrampfe ich mich dabei? Je nachdem ist meine ehrliche Antwort ein enthusiastisches Ja oder etwas anderes. Alles andere als ein enthusiastisches Ja ist ein Nein und gehört respektiert. Nicht hier, nicht jetzt, nicht so. Ein «Nein» ist meist keine persönliche Zurückweisung. Wenn du ganz grundsätzlich die falsche Person wärest, dann wäre es schon gar nicht so weit gekommen, dass wir gemeinsam hier sind und uns darüber unterhalten, wie wir einander gegenseitig Lust bereiten können.

Zu spüren, dass beide aus vollem Herzen genau das gleiche wollen, ist ein grossartiges Gefühl. Die Zustimmung muss nicht verbal erfolgen. Kürzlich war ich an einer Party. Eine Frau gefiel mir und ich suchte ihren Blickkontakt. Als sich unsere Blicke trafen, schickte ich ein Lächeln und tanzte ihr aus Distanz zu. Sie lächelte zurück und tanzte mit. Sie kam näher und wir tanzten Körper an Körper. Wir zogen uns gegenseitig quer über die Tanzfläche, liessen unsere Hände miteinander spielen, kneteten einander die Oberarme und Schultern, die Hüfte und den Arsch — immer sorgfältig darauf achtend, ob das Gegenüber die nächste Steigerung erwidert und ob sich in ihren Augen Freude oder Unsicherheit spiegelt. Ich hatte solche Freude an unserem Tanz und Spiel, dass ich sie fragte, ob ich sie auf die Stirn küssen dürfe. Wegen der Lautstärke der Musik verstand sie nicht recht, was ich wollte. Also näherte ich meine Lippen langsam mit stetem Blickkontakt und küsste sie sanft auf die Nasenspitze. Sie erwiderte und wir küssten uns lange und intensiv. Daraufhin bat sie mich, nach draussen zu gehen, damit wir reden können. Sie erklärte mir, sie sei normalerweise nicht lesbisch. Ich sagte ihr, dass ich eine feste Partnerin in meinem polyamoren Beziehungsleben habe, trans und deutlich älter sei als sie mich einschätzte. Alles für beide kein Problem. Ich gratulierte ihr zum Mut, anzusprechen, was wir miteinander tun und was es für uns bedeutet. Wir waren beide erleichtert und dankbar, als wir feststellten, dass wir unseren innigen Tanz und unser Küssen beide als das auffassten, was es ist: eine schöne sinnliche Erfahrung. Es ist kein Zeichen für etwas, was später im Drehbuch folgen wird. Wir wussten beide, wir würden anschliessend individuell nach Hause gehen, und wollten es auch beide so. Glücklich über diese Klärung umarmten wir uns, gingen anschliessend wieder rein und machten weiter. — Das ist kein Sex, aber es fühlt sich wie guter Sex an: belebend, erregend und befriedigend. Consent ist sexy! — Wir haben uns seither nicht mehr gesehen, aber ich bin sicher, wir werden uns beide riesig freuen, wenn wir uns das nächste Mal begegnen. Ich finde das eine schöne Art, jemanden kennenzulernen. Und ich schätze mich glücklich, in einer langjährigen Partnerschaft zu sein, in der wir einander solche Erfahrungen mitfreudig erlauben. Wobei halt: Ich gehöre mir. Ich erlaube es mir, weil ich mich versichert habe, durch solche Begegnungen nicht die Gefühle meiner Partnerin zu verletzen. Auch das ist einvernehmlich. Glaubt mir: Consent ist wirklich sexy!

Wir sind verletzlich

Das Konzept von Zustimmung geht von zwei Gewissheiten aus:

  • Wir sind verletzliche Wesen. Wir sind alle verwundbar auf der körperlichen, der psychischen und der symbolischen Ebene und tragen Narben von früheren Verletzungen mit uns rum.
  • Wir sind fehlbare Wesen. Nicht alles, was wir in guter Absicht tun, ist auch tatsächlich gut für uns und unsere Mitmenschen. Wir können uns auf der faktischen Ebene irren, die Signale anderer Menschen falsch interpretieren oder uns von fragwürdigen Normen leiten lassen.

Über Zustimmung versuchen wir möglichst zu verhindern, dass wir verletzt werden oder Fehler machen. Wenn wir nach Zustimmung fragen, dann gleichen wir unser Wissen über den anderen Menschen, unsere Erwartungen, Wünsche und Grenzen miteinander ab, so dass wir in unseren Handlungen darauf Rücksicht nehmen können. Bei etwas so Intimem wie Sex nicht nach Zustimmung zu fragen, ist respektlos, riskant und völlig zu Recht in Schweden ab Mitte nächstem Jahr illegal.

Die schlimmste Verletzung in meinem bisherigen Leben ereignete sich während meiner Primarschulzeit. In der fünften Klasse kam ein zwei Jahre älteres Mädchen in unsere Klasse. Sie war bereits in der Pubertät während ich noch in meiner kindlichen heilen Welt schwelgte. Sie steckte die ganze Klasse an, die Welt durch eine sexualisierte Brille anzuschauen — nur ich wollte nicht mitmachen. Ich verstand nicht, warum es plötzlich nicht mehr in Ordnung sein sollte, dass ich mit den Mädchen spielte (weil auf die blöden Sprüche der Knaben und ihre Raufspiele hatte ich keine Lust). Und als die Mädchen mich fragten, wer denn nun meine Freundin sei, und ich aufzuzählen begann, war das auch wieder nicht recht. Das Schlimmste war jedoch, dass dieses Mädchen mich über zwei Jahre sexuell belästigte. Anfänglich sagte ich «Nein, hör auf!», wenn sie mir in die Hosen griff. Irgendwann gab ich es auf, da es sowieso nichts nützte, sie von den Übergriffen (die ich damals nicht als das erkannte und nicht einzuordnen wusste) abzubringen. Ich schämte mich für was mir geschah. Ich wehrte mich nicht, denn ich wusste genau, dass ich als «Knabe» nicht Mädchen verprügeln darf und dass, wenn ich es getan hätte, ich als der Schuldige dagestanden hätte. Ich getraute mich auch nicht, jemandem etwas davon zu erzählen, denn in meinem Elternhaus war Sexualität ein Tabu, über das wir nie redeten. Der Klassenlehrer hat sicher mitbekommen, was läuft, aber er unternahm nichts. Wenn dieses Mädchen vom Lehrer zurechtgewiesen wurde, dann weil sie laut war oder ohne aufzustrecken Antworten gab, aber nie wegen dem übergriffigen Verhalten. Sie machte das auch bei anderen, aber die litten nicht so darunter wie ich. Also liess sie es dann bleiben. Von mir liess sie nie ab. Ich begann, verspätet in die Schule zu gehen und nach der Schule sofort heim zu rennen, um ihr möglichst keine Gelegenheit zu geben. Ich begann wieder, in die Hosen zu scheissen, und ich weinte oft scheinbar aus keinem Anlass. Meine schulischen Leistungen liessen nach. Ich wurde zu Psychologen geschickt. Die fanden nichts heraus, weil ich ihnen die relevanten Dinge nicht erzählte. Es wurde erst wieder besser, als wir wegen einem Stellenwechsel meines Vaters den Wohnort wechselten. Aber ich brauchte danach etwa 10 Jahre bis ich eine einigermassen gesunde Einstellung zu meiner Sexualität finden und Sex als etwas Befriedigendes erleben konnte.

Etwa ein Drittel aller Frauen und eine unbekannte Dunkelziffer bei den Männern hat Ähnliches oder Schlimmeres erlebt. Alltagssexismus und gelegentliche sexuelle Belästigungen nicht mitgezählt. Das muss nicht sein. Das darf nicht sein!

No means no!

Wir sind fehlbar

Doch wir können nicht bei «no means no» stehenbleiben.

«‹No means no› is simple enough but ‹Yes means yes› is what we need more of» (Rachel Lark)

Manchmal gelingt es aus verschiedenen Gründen nicht, rechtzeitig nein zu sagen. Manchmal bin ich auch schlicht zu feige. Als ich letztens mit einem Freund an einer Party war, tanzte ich kurz mit einem Typen, der offensichtlich Freude an mir hatte. Doch er wurde mir zu aufdringlich. Er bedrängte mich tanzend und machte mir den Raum eng. Anstatt ihm zu sagen, dass mich sein Verhalten stört, wandte ich mich ab und suchte Schutz bei meinem schwulen Freund. Wir umarmten uns und tanzten miteinander, bis wir als heterosexuelles Paar durchgingen. Da sah er seine Chancenlosigkeit ein und liess ab. Es kommt vor, dass ich einfach keine Lust auf Konfrontation habe und deshalb nicht nein sage. Das heisst jedoch nicht, dass alles bestens wäre. Ein fehlendes Nein ist noch kein Einverständnis.

Wenn er den Mut gehabt hätte, nach dem zu fragen, was er wollte, hätte ich nein gesagt. Doch auch Körbe zu verteilen, kann ganz schön anstrengend sein. Schliesslich gibt es immer wieder Typen, die mehrere Extraeinladungen brauchen bis sie ein Nein als Nein zu akzeptieren gewillt sind. Was das soll, ist mir schleierhaft. Es ist nicht einfacher, eine dreimalige Ablehnung zu verdauen als eine einmalige. Vermutlich empfinden diese (anschliessend oft in Selbstmitleid verfallenden) Typen es auch nicht als hilfreich, wenn ich ihnen sage, sie mögen vielleicht als Mensch schon in Ordnung sein, sie würden es einfach falsch machen. Aber das ist genau der Punkt! — Die meisten Menschen wollen Sex. Frauen sind Menschen. Folglich wollen die meisten Frauen Sex — sofern die Bedingungen stimmen. Die Bedingungen sind individuell recht verschieden. Wie willst du wissen, was die Bedingungen deines verehrten Gegenübers sind, wenn du nicht danach fragst?

Eine gemeinsame Bedingung aller Menschen, die sich ihrer Verletzlichkeit bewusst sind, ist Sicherheit. In einer Atmosphäre, wo ich mir nicht 100% sicher sein kann, dass mein Nein oder Stopp respektiert würde, kommen bei mir schon gar keine erotischen Fantasien auf. Anzeichen, dass meine Sicherheit gefährdet sein oder mein Wille gebrochen werden könnte, sind ein sofortiger Lustkiller. Wenn mein Gegenüber Druck ausübt, insistiert, mich zu manipulieren versucht, ist sofort fertig. — Zumindest dann, wenn ich nüchtern bin, das Spiel durchschaue und meine eigenen Grenzen klar erkennen kann. Das ist nicht immer der Fall. Wie jeder Mensch bin ich fehlbar hinsichtlich meiner Selbstbeobachtung und scheitere manchmal, Verantwortung für mich selber zu übernehmen.

Wir müssen lernen, Verantwortung für uns und unser Gegenüber zu übernehmen. Wir müssen lernen, in uns zu reinzuhorchen und unserem Gegenüber zuzuhören. Wir müssen uns gegenseitig erlauben, unsere Wünsche offen auszusprechen, uns selbst zu sein, uns hinzugeben, grosszügig und dankbar zu sein. Wenn es um Sex geht, ist nichts selbstverständlich. Das erfordert ein hohes Mass an Kommunikation. Im Vorfeld, während dem Liebesspiel und danach.

Wir müssen uns gegenseitig auch erlauben, Fehler zu machen. Auch ich bin schon unbeabsichtigt zu weit gegangen. Das muss keine Schande sein. Sofort abbrechen, sich entschuldigen, für die verletzte Person eine sichere Umgebung wieder herstellen und zuhören (sofern die andere Person darüber reden möchte), hilft Wunder und heilt Wunden.

All das ist lernbar. Ich weiss es. Und wenn ich das kann, dann könnt ihr das auch!

Play it safe. Play it sane. Play it consensual!

So erlaube ich mir, diesen langen Artikel abzuschliessen, indem ich Trumps berühmtes, armselig angeberische Dictum abwandle:

«And when it’s consensual, they let you do it. You can do anything.»

Update 10. März 2019

Ich habe den Artikel sprachlich leicht überarbeitet, indem ich zur Apostroph-Notation als inklusive Pluralform für gemischtgeschlechtliche Gruppen gewechselt habe. Der Apostroph ist ein Auslassungszeichen und steht für das Gender-Sternchen oder den Unterstrich. Ausserdem habe ich auf die problematische Bezeichnung «Frauen*» verzichtet. Der Stern sollte damals andeuten, dass nicht die biologistische Kategorie gemeint ist, die Geschlechtsidentität am Aussehen der Geschlechtsorgane bei Geburt festmacht. Dass «Frauen» etwas anderes meint als das, sollten 2019 alle begriffen haben. Es war nicht meine Absicht, mit dem Begriff «Frauen*» non-binäre Menschen, trans Frauen oder gar trans Männer als «so etwas ähnliches wie Frauen» erscheinen zu lassen. Trans Frauen sind Frauen. Trans Männer und non-binäre Menschen sind keine Frauen.

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User Interface Developer und Spezialistin für Inclusive Design bei @zeix, queer-feministische Denkerin und Aktivistin, schreibt für @be_queer (sie/ihr)