Einige erleben die Welt anders

Esther Brunner
be queer!
Published in
8 min readOct 21, 2018

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Unter dem Hashtag #MeQueer berichten lesbische, schwule, bi- und pansexuelle, trans- und intergeschlechtliche sowie non-binäre Menschen über ihre Alltagserfahrungen in einer dya-cis-hetero-normativen Welt. Ich habe in einem Twitter-Thread Mikroaggressionen geschildert, die ich als trans Frau im Ausgang erlebe. Das meiste davon ist nicht wirklich schlimm, aber in der Summe anstrengend.

Und dann kamen Nazis.

Der folgende Text ist eine Aufbereitung dieses Diskussionsstrangs:

Inhaltswarnung: Transfeindlichkeit, Sexismus, Misogynie, Misgendering und sexualisierte Übergriffe.

Um gängige Begriffe nicht auch noch erklären zu müssen, verweise ich dankend auf das Queer Lexikon.

Neugier

Immer wieder werde ich gefragt, ob ich Mann oder Frau sei. Unzählige Male. — Okay, ihr neugierigen cis Menschen, ihr dürft fragen. Aber formuliert es doch lieber so: «Wie identifizierst du dich?» Auf diese Weise unterstellt ihr kein binäres Geschlechtersystem und anerkennt, worauf es bei Geschlecht wirklich ankommt: auf die Identifikation.

Besonders mühsam sind diejenigen, die auf meine Antwort nachhaken, für eine Frau hätte ich aber eine tiefe Stimme. — Wenn ich gerade gut gelaunt bin, sage ich was mit Testosteronüberschuss in der Jugend. Wenn ich schlecht gelaunt bin, gehe ich einfach weg. — Dabei: warum genau muss ich weggehen, um mich sicher zu fühlen? Warum sollen trans Menschen ihr Geschlecht rechtfertigen und erklären müssen, cis Menschen aber nicht?

Ganz beliebt, vor allem von Seiten neugieriger cis Männer, ist die Einleitung «Meine Kollegin möchte wissen, ob …» — Ich weiss dann genau, dass sie hinter meinem Rücken Wetten abgeschlossen haben, in welches binäre Kästchen sie mich einsortieren sollen. Und oft die Nachfrage: «Aber geboren bist du als Mann, oder?» — Meine Antwort «Für dich nicht von Relevanz» deuten sie dann oft als ja, womit sie sich bestätigt fühlen, mein vermeintlich «wahres» Geschlecht herausgefunden zu haben.

Natürlich könnte ich sie dann fragen, welchem Geschlecht sie bei Geburt zugewiesen wurden — cis Menschen werden das selten gefragt — aber meist habe ich null Lust auf solche Diskussionen, wenn ich im Ausgang tanzen will.

Besonders beliebt bei neugierigen cis Frauen ist ein gut gemeintes: «Oh, du hast aber schön Brüste!» — Meine Antwort, «Ja ich weiss, aber danke.» lässt sie oft verwirrt zurück, weil sie queer-feministische Cookies erwartet haben. Nicht selten kommt auch die Frage: «Darf ich sie mal berühren?»— Es ist doch seltsam, dass Frauen, mit denen ich kaum zwei Sätze ausgetauscht habe, meine Brüste berühren wollen, nur um ihre von exotisierenden Vorstellungen getränkte Neugier zu befriedigen. Falls ich es zulasse, kommt dann meist die Reaktion: «Wow, die fühlen sich aber natürlich an!» —«Klar, die sind auch auf die selbe Art gewachsen wie bei dir.» Offenbar geistert die falsche Meinung herum, alle trans Frauen hätten Silikonbrüste.

Sexuelle Anspruchshaltung

Meist werde ich wohl als cis Frau gelesen. Viele Menschen sind sich nicht bewusst, dass es ausser cis Frauen noch andere Frauen gibt. Somit erlebe ich die ganze sexistische Scheisse ebenso wie alle Frauen. Zusätzlich lebe ich aber in der Angst, auf transmisogyne Typen zu treffen, die mich attraktiv finden, aber sobald sie von meinem Transsein erfahren, irgendwodurch einen Mann in mir sehen wollen und ihre homofeindlichen Einstellungen als Hass auf mich projizieren. Ich suche übrigens nicht nach weiteren Partner’innen (jedenfalls nicht ausserhalb des queer-feministischen, sex-positiven und polyamoren Kuchens), aber ich tanze und flirte gern mit Menschen aller Art.

Und scheinbar komme ich bei Menschen aller Art gut an. Das ist gleichzeitig Segen und Fluch. Vor allem Männer mit einer sexuellen Anspruchshaltung sind ein Fluch. Einmal habe ich mit einem Mann ein paar Takte Körper an Körper getanzt. Dann wollte er meine Telefonnummer. Erst nach drei deutlichen Nein begriff er, dass ich sie ihm nicht geben will. Die grosse Mehrheit der Menschen versteht, dass ein Lächeln oder kurz miteinander tanzen noch nicht bedeutet, dass sie mich jetzt küssen oder überall anfassen dürfen. Einige, meist Männer, wollen das nicht verstehen.

Dauernd Grenzen zu setzen und verteidigen, kostet Energie.

Wenn mir cis Menschen trans erklären …

Auch tragisch-lustig: Wenn cis Menschen mir cisplainen, wie bewundernswert sie trans Menschen fänden (dabei meinen sie oft Drag Queens) oder wie schwierig es diese Menschen doch hätten (sie haben einen Film darüber gesehen; oder waren mal bei einer trans Sexarbeiterin und haben mit ihr gesprochen — kein Witz!), ohne sich bewusst zu sein, dass ich trans bin.

Manchmal bin ich (wie andere trans Menschen mit langjährigem gutem Passing) unsichtbar. Meine Realität entspricht nicht dem Bild, das sich cis Menschen von trans Menschen machen. Wenn ich dann erzähle, bin ich halt eine Ausnahme.

… oder ich ihnen dauernd trans erklären soll

Eine häufige erste Frage, wenn ich erzähle, dass ich trans bin, ist: «Bist du komplett umoperiert?»— Geht dich nichts an! Die OP-Obsession nervt und ich weiss nicht, was «komplett» in dem Zusammenhang bedeuten soll.

Andere fragen, wie es sei, «im falschen Körper» geboren zu sein.

An meinem Körper ist nichts falsch. Eure Geschlechterzuschreibungen sind problematisch!

Es ist anstrengend, dauernd gegen falsches Framing ankämpfen zu müssen.

Annahmen über sexuelle Orientierung

Auch gern gefragt: «Stehst du auf Männer oder Frauen?»

Kann mensch nur entweder oder? Und was ist mit Menschen ausserhalb der binären Geschlechterordnung? Ich mag ausgewählte Menschen aller Geschlechter.

Oder dann die Frage: «Bist du bisexuell» — Ich antwortete: «Ja, aber ich stehe nur auf ausgewählte Menschen.» Der Typ verstand nicht, dass das «kein Bedarf» heisst und fragte, ob er mir an den Arsch greifen dürfe. — «Nein!»

Ich fragte mich dann, als was er mich gerade gelesen haben könnte, als er die Frage nach meiner Bisexualität stellte. Aber das gehört vielleicht zu seiner (unbewussten) Strategie, mich in Bezug auf die Geschlechtswahrnehmung zu verunsichern.

Überhaupt dieses leicht übergriffige «Ah, du bist auch bi/pan/poly. 😊 Wie wär’s?» — Ich bin zwar eine stolze Schlampe, aber auch eine wählerische — aus Gründen.

Noch häufiger als die Frage nach meiner sexuellen Orientierung ist die implizite Annahme, ich sei heterosexuell oder lesbisch (je nach Kontext). Als bi/pan ist mensch unsichtbar, weil nur die Person, mit der ich gerade interagiere, gesehen wird. Auch ich gehe nach wie vor meist davon aus, dass Menschen heterosexuell sind, obwohl ich aus Erfahrung wissen müsste, dass dies gerade bei Menschen, die mich interessieren, oft nicht stimmt.

Oh, was ich noch vergessen habe: Die Unterstellung oder Erwartung, dass trans Menschen asexuell seien / zu sein haben. Das war bei mir zwar lange so. Jetzt nicht mehr. Und das gilt schon gar nicht für alle.

Zu taxieren, was Frauen tun, ist eine auch subtile Form männlicher Machtausübung. Beispielsweise das süffisante «Na, ihr Turteltäubchen?» eines Typs, der zuschaut, wie ich mit einer Freundin Zärtlichkeiten austausche. — Damit verniedlicht er unser erotisches Spiel und stellt es in den Kontext von Verliebtheit. Was beides nicht stimmt. Wir beide tauschen einfach gern Zärtlichkeiten aus mit Menschen, die wir mögen. Aber das geht ihn alles nichts an. Wenn sein Denkkorsett diese Form von Interaktion nur im Kontext von Verliebtheit vorsieht, ist das sein Problem. Dieser Mann machte zum Glück keine Anstalten, mitmachen zu wollen. Aber das habe ich — wie wohl jede frauenliebende Frau — auch schon erlebt.

Misgendering

Nicht selten versteht das Gegenüber auch nach mehrmaligem Wiederholen meinen Vornamen nicht. — Ich weiss dann genau, dass sie mich vor ihrem inneren Auge misgendern, das heisst, mich in ihrer Vorstellung einem falschen Geschlecht zuweisen. Mein Name passt für sie offenbar nicht zu meiner Stimme. Wenn ich falsch gegendert werde, dann meist am Telefon. Da bildet nur meine Stimme, nicht meine äussere Erscheinung, ihren ersten Eindruck, der für die Geschlechterschubladisierung entscheidend ist.

Interessant ist auch, dass ich eigentlich nie falsch gegendert werde, wenn jemand anders mich vorstellt.

Nur wenn ich mich selbst vorstelle, wagen gewisse Menschen an meiner Geschlechtszugehörigkeit zu zweifeln.

Kürzlich wies ich eine Person freundlich aber bestimmt darauf hin, dass sie meine Geschlechtszugehörigkeit falsch einschätze. Da wollte sie mir doch tatsächlich in die Hosen greifen, weil sie meinen Worten nicht traute. — Ich hab abgeblockt und ein Freund, der daneben stand, hat sofort interveniert. Ich war immer sicher. Dennoch ist es klar übergriffig, …

  • einer Person das selbstdeklarierte Geschlecht abzusprechen,
  • zu glauben, Geschlecht sei zwischen den Beinen zu bestimmen
  • und sich anzumassen, via körperlichem Eingriff in die Intimsphäre einer anderen Person sich selbst ein Bild machen zu wollen.

Ein zweites Mal zum Opfer gemacht

Den zuletzt geschilderten Vorfall habe ich an meinen Twitter-Thread zu #MeQueer angehängt:

Was daraufhin geschah: In den Antworten zeigten einige Freund’innen Mitgefühl und ein Mob wildfremder Nazis (nicht als Beschimpfung der Trolle, leider; viele von ihnen führen ganz offen Nazi-Symbolik in ihren Profilbildern oder Twitter-Namen und äussern sich gezielt rassistisch, sexistisch und antisemitisch) attackierte mich. Vielleicht hat der #MeToo-Hashtag ihre fragile Männlichkeit freigelegt und sie fühlten sich berufen, das Recht eines (möglicherweise männlichen) Aggressors zu verteidigen, einer trans Frau zwischen die Beine zu greifen.

Es passierte genau das, was allen Opfern von sexualisierter Gewalt widerfährt, wenn sie mit ihren Erlebnissen an die Öffentlichkeit treten und die unhaltbaren Grenzüberschreitungen anprangern:

  • Es wurde angezweifelt, ob es sich tatsächlich so ereignet habe. 🤔
  • Mit Unterstellungen wurde ich als egozentrisch und psychisch krank bezeichnet, um meine Glaubwürdigkeit zu unterminieren. 🧙‍
  • Ich wurde aufgefordert, Namen oder Beweise offen zu legen. 📜
  • Ich wurde gefragt, warum ich denn den Vorfall nicht der Polizei gemeldet hätte. 👮‍
  • Ich wurde als hässlich abgewertet und mein Erscheinungsbild als männlich taxiert, verbunden mit bewusstem Misgendering. 🧟‍
  • Hinter meinem Rücken machten sich von mir bereits blockierte Accounts über mich lustig. 🤪

Alle Menschen mir Sexismus- und/oder Rassismus-Erfahrungen wissen, dass es immer so abläuft: anzweifeln, beschämen, abwerten, Mitschuld geben, Fehler beim Opfer suchen, sich lustig machen und sowieso nicht ernst nehmen. Und wisst ihr was? — Genau wegen dieser toxischen misogynen und rassistischen Kultur, die der Perspektive der meist männlichen Täter freimütig eine gewisse Restglaubwürdigkeit attestiert und nach Gründen sucht, der Perspektive der meist weiblichen und/oder nicht-weissen Opfer weniger Glaubwürdigkeit zu schenken, bin ich felsenfest davon überzeugt, dass die Geschichten zu #MeToo, #MeTwo und #MeQueer stimmen. Niemand setzt sich einem erwartbaren Shitstorm ohne Not aus, wenn mit dem Schritt an die Öffentlichkeit nicht die Hoffnung verbunden wäre, dass die Wahrheit künftiges Leid vermeiden möge.

Von all den grenzritzenden bis übergriffigen Erlebnissen beschäftigte mich das Eindringen der Nazi-Trolle in meinen Twitter-Thread am meisten. Diesmal waren es nur etwa ein Dutzend deutscher Nazis, die teilweise, wie ich später herausfand, zuvor mutigen Autorinnen wie Ash Kay, Felicia Ewert oder Sibel Schick Hass geschickt und den Tod gewünscht hatten. Im Vergleich kam ich noch glimpflich weg. Aber ich hatte Angst. Ich hatte Angst, dass rechte Trolle aus der Schweiz, die mir tatsächlich auf der Strasse begegnen könnten, in die Online-Belästigungen einstimmen könnten. Und ich weiss, früher oder später wird das geschehen, denn ich werde nicht schweigen. 💪

An dieser Stelle möchte ich nochmals all meinen Freund’innen danken, die auf meinen Hilferuf reagiert, drangsalierende Kommentare Twitter gemeldet, Screenshots erstellt und deren Accounts blockiert haben. 🤗🌈❤️

Update 10. März 2019

Ich habe den Artikel sprachlich leicht überarbeitet, indem ich zur Apostroph-Notation als inklusive Pluralform für gemischtgeschlechtliche Gruppen gewechselt habe. Der Apostroph ist ein Auslassungszeichen und steht für das Gender-Sternchen oder den Unterstrich. Ausserdem habe ich auf die problematische Bezeichnung «Frauen*» verzichtet. Der Stern sollte damals andeuten, dass nicht die biologistische Kategorie gemeint ist, die Geschlechtsidentität am Aussehen der Geschlechtsorgane bei Geburt festmacht. Dass «Frauen» etwas anderes meint als das, sollten 2019 alle begriffen haben. Es war nicht meine Absicht, mit dem Begriff «Frauen*» non-binäre Menschen, trans Frauen oder gar trans Männer als «so etwas ähnliches wie Frauen» erscheinen zu lassen. Trans Frauen sind Frauen. Trans Männer und non-binäre Menschen sind keine Frauen.

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User Interface Developer und Spezialistin für Inclusive Design bei @zeix, queer-feministische Denkerin und Aktivistin, schreibt für @be_queer (sie/ihr)