Das Erotische ist politisch

Esther Brunner
be queer!
Published in
6 min readJun 16, 2018

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Ich war nicht immer eine Schlampe. Es ist okay, keine Schlampe zu sein. Aber heute bin ich eine stolze Schlampe — und das ist gut so.

Rede gehalten am 15. Juni 2018 am Zurich Pride Festival. Foto: Silvia Müri.

Definiere «Schlampe»

«Schlampe» wird umgangssprachlich als Schimpfwort verwendet, um den Lebenswandel und besonders das Liebesleben von Frauen als unmoralisch zu verunglimpfen. Die Tatsache, dass es kein ähnlich abwertendes Wort für das gleiche Verhalten von Männern gibt, zeigt den gängigen Sexismus in unserer Gesellschaft auf. 😡 Slut Shaming wirkt — und ist wie viele patriarchale Praktiken darauf ausgerichtet, die weibliche Sexualität zu kontrollieren.👮‍ Eine Frau, die selbstbestimmt und fordernd sexuelle Erfüllung sucht — womöglich mit mehreren Partner’innen 👩‍❤️‍👩💑 — wird schnell mal als Schlampe bezeichnet, ganz unabhängig davon, wie respektvoll sie mit ihren Partner’innen umgeht. 👙💅💄👠💃💋

Aber Moment: Ich liebe Frauen, die selbstbestimmt, fordernd und doch respektvoll sexuelle Erfüllung suchen! 💖🍑💋 Ich liebe auch Männer, die selbstbestimmt, fordernd und doch respektvoll sexuelle Erfüllung suchen! 💖🍆💋 Und die queeren Menschen ausserhalb der binären Geschlechterordnung, die sich so verhalten, liebe ich noch viel mehr! 💓💖🌶🔥💋 Ich liebe Schlampen über alles! ❤️🧡💛💚💙💜 Schlampen aller Länder vereinigt euch! ✊🏿✊🏾✊🏽✊🏼✊🏻 Ihr seid die besten! 🐙🦊🤗🐲🦋😈

Wenn ich also von Schlampen rede, so meine ich sexuell entdeckungsfreudige Menschen, so warmherzig anerkennend wie es nur geht.

Der Begriff kann für Personen aller Geschlechter eingesetzt werden. Wer ihn für andere Menschen als sich selbst verwendet, sollte sich geehrt fühlen, selber als Schlampe bezeichnet zu werden 😇, und sich sicher sein, dass sich die bezeichnete Person und die Zuhörenden ebenfalls so verstehen. Alles andere ist pfui! 🤮

Wenn ich jemanden neu kennenlerne, liebe ich es, mitten in einer guten Unterhaltung zu fragen: «Verwendest du Schlampe als bestärkende Bezeichnung für dich selbst?» — Ich sage euch: Diese Frage ist pures Gold wert. Nur schon die verdutzten Gesichter 😳 derjenigen, die sich noch nie überlegt haben, sich als Schlampe zu sehen — einfach unbezahlbar! 😂 Ich denke dann manchmal leise: schade, nichts für mich. ☹️ Die anderen hingegen, die freudig mit «Ja! Du auch?» 🤩 antworten, in die könnte ich mich oft gleich verlieben. 😍💘 Genau mein Beuteschema: Wahrscheinlich haben sie einen queer-feministischen Hintergrund, sonst wäre ihnen die Strategie der positiven Umdeutung abwertender Begriffe — und speziell bei diesem Begriff — kaum geläufig. Und meine Erfahrung zeigt, dass sexuell entdeckungsfreudige Menschen meistens gleichzeitig auch pansexuell, offen für Polyamorie und ein bisschen pervers sind. — Was will ich mehr? 😊

Schlampen mit Moral

«Schlampen mit Moral» oder auf Englisch «The Ethical Slut» ist der Titel eines bekannten Buches zu Polyamorie von Dossie Easton und Janet Hardy. Sie definieren Schlampen als «a person of any gender who has the courage to lead life according to the radical proposition that sex is nice and pleasure is good for you». Ja, Sex ist schön und sinnliche Freuden sind wohltuend und heilsam. Ohne Zweifel! Aber wie kann ich erotische Erlebnisse mit mehreren Personen haben, ohne die Gefühle meiner Liebsten zu verletzen? Und wie kann ich mich davor schützen, verletzt zu werden? ☔️

Es ist nicht so schwer, wie ich noch vor wenigen Jahren dachte. Der Schlüssel ist: Radikal offen miteinander reden. Achtsamkeit für die eigenen Gefühle entwickeln, diese zu formulieren lernen, darüber sprechen, zuhören und Grenzen respektieren. Betrügen geht gar nicht! Wenn es geheim bleiben soll, sollte es besser gar nicht erst passieren. Das bringt nur Ärger, Enttäuschungen, Verletzungen. 😡😖😰😭

Meine Partnerin und ich hatten vor etwas mehr als zwei Jahren viele Gespräche geführt, bevor wir uns gegenseitig aus dem monoamoren Denkkorsett befreiten und uns unsere vollen Freiheiten zurückschenkten. Schritt für Schritt warfen wir Regeln, die mal nützlich waren, um uns gegenseitig Sicherheit zu geben, über Bord. Brauchen wir nicht mehr. Wir wissen, dass wir einander lieben und einander treu bleiben, ganz unabhängig davon, in welche anderen Menschen wir uns sonst noch verlieben. Gibt es ein schöneres Liebesbekenntnis als sich daran zu erfreuen, dass der Lieblingsmensch sich voll entfalten und aufblühen kann? 🌱🌻🌹🌺🌷

Natürlich ist es nicht immer einfach. Beziehungen zu führen ist anspruchsvoll. Und wir haben nie so richtig gelernt, über unsere tiefsten Bedürfnisse und Ängste in einer Beziehung zu sprechen. Ich jedenfalls nicht. Ich musste vieles nachholen, umlernen und neu lernen. Meine besten Lehrer’innen sind andere Schlampen. Danke euch! 🤗 — Endlich habe ich Menschen gefunden, mit denen ich ohne Zensurschere im Kopf über Lust und Liebe sprechen kann, egal wie abwegig etwas im Licht der monoamoren, cis-heterosexuellen Norm in der Gesellschaft erscheinen mag. Darum kann ich es nur nochmals wiederholen: Schlampen, ich liebe euch! ❤️🧡💛💚💙💜 Ihr seid die besten! 🐙🦊🤗🐲🦋😈

Lasst uns Sex entzaubern!

Eines der drängenden gesellschaftlichen Probleme unserer Zeit ist, dass Sex überbewertet und unterpraktiziert ist. Sex wird romantisiert 💖, glorifiziert 💎 und zur ultimativen Erfüllung hochstilisiert 🥇. Dieses Bild der Sexualität, transportiert durch unzählige Filme, Lieder und Erzählungen, der einfachen Verfügbarkeit von Pornografie und sexualisierter Werbung, weckt hohe Erwartungen. Erwartungen, die allzu oft nicht erfüllt werden. Fast alle Menschen — unabhängig vom Geschlecht — , mit denen ich mich in den letzten Jahren über dieses Thema vertieft unterhalten habe, fühlen sich verunsichert, haben das Gefühl, zu kurz zu kommen, nicht zu genügen oder es nicht richtig zu machen. Ich habe ungefähr 40 Jahre gebraucht, um zu realisieren, dass es anderen auch so geht.

Heute, als Schlampe, habe ich ein entspannteres Verhältnis zur Sexualität. Dank den Schlampen unter euch, von denen ich so viel lernen durfte. Danke euch! 🤗 — Auch wenn ich gerne erotische Spiele mit vielen verschiedenen Menschen mache, so heisst das doch nicht, dass ich mit allen ins Bett steige. Eigentlich bin ich relativ zurückhaltend, vor allem mit Praktiken, bei denen es potentiell zum Austausch von Genitalsekreten kommen kann. Ich habe keine Lust, die Resultate der regelmässigen Tests zu sexuell übertragbaren Krankheiten mit einem Newsletter-Tool verschicken zu müssen. Gemäss OkCupid, einer Dating-App, bin ich weniger romantisch und habe einen weniger ausgeprägten Sexualtrieb als andere. Das stimmt wohl. Aber ich bin Erotik- und Sinnlichkeits-Junkie:

  • Ich liebe es, eine neue Person kennenzulernen. 🤝
  • Ich liebe das erotische Knistern in mir zu spüren. 😍
  • Ich mag die Unsicherheit, noch nicht so genau zu wissen, was mit einem attraktiven Menschen möglich sein wird. 😕
  • Ich liebe das langsame gegenseitige Vortasten. 👐
  • Ich liebe das vorsichtige Erkunden des Körpers der anderen Person. 🙃
  • Ich geniesse, wenn ich verwöhnt werde und mein ganzer Körper mit achtsamen Berührungen geehrt wird. 🤲
  • Ich fühle mich geehrt, einem anderen Menschen nackt gegenüberzutreten und dessen intime Stellen am Körper zu finden und zu stimulieren. 😊
  • Ich liebe es, die Kraft, den Willen und den Widerstand der anderen Person zu spüren. 💪
  • Ich mag zwischendurch Pause machen. 🖐
  • Ich explodiere fast, wenn ich von vielen Menschen gleichzeitig berührt werde. 🤯
  • Ich liebe das Gefühl, nicht so genau zu wissen, was mit mir jetzt passiert. 🤭
  • Ich will die Kontrolle abgeben und einfach nur eintauchen können. 😶
  • Ich will Dinge tun, die eins normalerweise nicht tut. 🤪
  • Ich will mit neuen Erfahrungen an meine Grenzen geführt werden. 😲
  • Ich schätze es, dennoch immer sicher sein zu können, dass meine Grenzen stets respektiert werden. 😎
  • Ich mag sogar die kleinen Missverständnisse. 😮
  • Ich schmunzle über die Pleiten, Pech und Pannen, die es bei erotischen Spielen geben kann. 😜
  • Manchmal liebe ich auch den Schmerz. 😬
  • Ich geniesse die warmen, wohltuenden und befreienden Tränen. 😥
  • Ich bedanke mich für ein klares Nein. 👎
  • Und bin verzückt bei einem enthusiastischen Ja. 👍

All das liebe ich!

Sex bedeutet für verschiedene Menschen Unterschiedliches. Verschiedene Körper, verschiedene Identitäten, verschiedene Erfahrungen, verschiedene Gefühle, verschiedene Bedürfnisse. Lasst uns darüber reden. Und lasst uns diese Vielfalt feiern! Die Pride ist ein Fest der Liebe, wo wir stolz auf unsere Einzigartigkeit sein können. 🏳️‍🌈❤️🧡💛💚💙💜🏳️‍🌈 Du bist schön! 💃 Du bist kostbar! 👑 Du bist wohltuend! 🧚

Lasst uns die Liebe feiern! Lasst uns die Sexualität feiern, denn sie schön, kostbar und wohltuend!

Ich wünsche euch allen, dass ihr euch getraut, Liebe zu schenken und empfangen. Ich wünsche euch allen, dass ihr euch getraut, sexuelle Begegnungen zu suchen (sofern ihr wollt), respektvoll danach zu fragen und das Spiel in vollen Zügen zu geniessen. Und vergesst nicht: safe, sane & consensual.

Danke, geniesst es! 🙌🎊🎉

Ich habe den Artikel sprachlich leicht überarbeitet, indem ich zur Apostroph-Notation als inklusive Pluralform für gemischtgeschlechtliche Gruppen gewechselt habe. Der Apostroph ist ein Auslassungszeichen und steht für das Gender-Sternchen oder den Unterstrich. Ausserdem habe ich auf die problematische Bezeichnungen «Frau*» und «Mann*» ersetzt. Der Stern sollte damals andeuten, dass nicht die biologistische Kategorie gemeint ist, die Geschlechtsidentität am Aussehen der Geschlechtsorgane bei Geburt festmacht. Dass «Frau» und «Mann» (auch ohne Stern) etwas anderes meint als das, sollten 2019 alle begriffen haben. Trans Frauen sind Frauen. Trans Männer sind Männer. Non-binäre Menschen sind weder Frauen noch Männer.

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User Interface Developer und Spezialistin für Inclusive Design bei @zeix, queer-feministische Denkerin und Aktivistin, schreibt für @be_queer (sie/ihr)